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Ich bin Moritz. 22 Jahre alt, Mitglied im Bundesvorstand der BUNDjugend und als Stellvertreter der Jugendorganisation ebenfalls Mitglied im Bundesvorstand des BUND, einer der größten Umweltschutzorganisationen mit weit über 600.000 Unterstützer*innen. Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich, zunächst als Schüler*innensprecher und im Vorstand der Kreis-Schüler*innenvertretung, ehrenamtlich politisch aktiv. Heute führe ich regelmäßig Gespräche mit hochrangigen Politiker*innen und politischen Beamt*innen, Geschäftsführer*innen und Unternehmensvorständen. Kaum einer dieser Gesprächspartner*innen weiß, dass ich noch bis vor wenigen Jahren als Kind einer alleinerziehenden, erwerbsunfähigen Mutter selbst in Armut, im Hartz-IV-Bezug, aufwachsen musste. Das möchte ich heute und mit dieser Stellungnahme ändern.
Es ist an der Zeit, aufzuhören zu schweigen und mich angesichts der aktuellen politischen Situation auch zu den schmerzhaften Erfahrungen des Aufwachsens in Armut zu äußern.
Vor einer Woche haben CDU/CSU im Bundesrat das neue Bürgergeld blockiert.
Das Bürgergeld ist ein Konzept der Ampel, das Hartz-IV ablösen soll. Zentral sind dabei: weniger scharfe Sanktionen, längere Schonfrist, höheres Schonvermögen, einen zumindest etwas höheren Satz gibt es auch. Im Koalitionsvertrag wird das Vorhaben so eingeführt: „Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“
Klingt erst mal ganz gut. Vor allem, wenn man sich neueste Zahlen zum Thema Sanktionen im Sozialsystem anschaut – ein Prinzip, auf dem Hartz IV maßgeblich basiert („Fördern & Fordern“). Der Verein Sanktionsfrei e.V. hat kürzlich eine Studie dazu veröffentlicht. Unter den Ergebnissen heißt es: „Die stärkste Wirkung, die von Sanktionen ausgeht, ist Einschüchterung und Stigmatisierung. (…) Bereits die Androhung von Sanktionen verstärkt bei den Betroffenen das Gefühl von Ausweglosigkeit und Isolation und kann sogar Krankheiten verursachen und verstärken.“ (Sanktionsfrei | Studie). Mit Würde von von Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen hat Hartz IV nichts zu tun. Das Bürgergeld soll das besser machen. Menschen sollen weniger Angst haben müssen und mehr Freiraum, sich zu sortieren. Klar, das Ziel ist immer: Reintegration in den Arbeitsmarkt. Reinforcement of capitalistic value. Aber immerhin mit weniger Demut.
Die Union blockiert das Bürgergeld mit der Begründung, es senke bei den Empfänger*innen die Motivation zu arbeiten. Das geringe Interesse der Union an der Würde marginalisierter Menschen überrascht mich nicht. Das Ausmaß der Gleichgültigkeit unter den Politiker*innen aber durchaus. Völlig realitätsfern werden scharfe Gangarten, weniger Spielraum, weniger Vertrauen gefordert – also: weiter mit unmenschlichen Sanktionen und totaler Kontrolle. Und wer schon einmal mit dem Arbeitsamt zu tun hatte, weiß: auch zurück zur Willkür. Besonders Menschen, die diskriminiert werden, leiden in Deutschland unter dem Strudel der Sanktionen. Wer einmal drin ist, kommt nur schwer wieder raus. Genderqueere und rassistisch markierte Menschen, Menschen mit Migrationsbiografie, psychischen oder physischen Erkrankungen oder niedrigem Bildungsstand sind besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen (bpb kurz&knapp). Wer unter mehreren Diskriminierungsformen leidet, hat es noch schwerer (Antidiskriminierungsstelle). (Beispiel USA: Arbeitslosigkeit unter weißen trans* Menschen drei Mal so hoch wie der Durchschnitt, unter Schwarzen trans* Menschen vier Mal so hoch.)
Sozialverbände wie der Kinderschutzbund und der Paritätische Gesamtverband kritisieren die blockierenden Parteien scharf. Modellrechnungen seien fehlerhaft. Die Verweigerung sei „unanständig“. Diese Haltung können wir nur bekräftigen.
Die Union nimmt die wachsende Armut der Menschen in Kauf. Besonders Kinder sind von multiplen Krisen betroffen, ihre existenzielle Sicherheit wird mit der Verweigerungshaltung aufs Spiel gesetzt. Mit erschreckender Gleichgültigkeit und sozialer Kälte klammert die Union sich an ein System, welches seit seinem Bestehen darauf setzt, Chancen zu nehmen, statt sie zu bieten.
So dürfen Kinder von Hartz-IV-Empfänger*innen, solang sie in der Bedarfsgemeinschaft leben, 100€ pro Monat dazuverdienen – von allen Einkünften darüber hinaus werden 80% von den Regelleistungen der Bedarfsgemeinschaft abgezogen. In der harten Realität bedeutet das: Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche können noch so fleißig arbeiten – ihre Arbeit wird sich niemals lohnen! Jugendliche, die trotz der alltäglichen Konfrontation mit Armut, gesellschaftlicher Ausgrenzung, Barrieren im Bildungssystem und fehlenden Chancen zur kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe einen 520€-Minijob ausüben möchten, erhalten zwar das volle Gehalt auf ihr Konto – beispielsweise in meinem Fall werden der alleinerziehenden Mutter dann aber 336€ vom Regelsatz gestrichen. Gesellschaftliche Teilhabe? Unmöglich.
Dieses System signalisiert Millionen Kindern und Jugendlichen wie mir von Beginn an:
Du bist arm. Du wirst arm bleiben, denn wir lassen dich nicht arbeiten gehen wie deine Mitschüler*innen. Und wenn doch? Dann nehmen wir deiner Mutter das Geld einfach wieder weg!
Wenn die CDU angesichts dieser Zustände also argumentiert, Arbeit solle sich lohnen, betreibt sie lediglich schäbigen Populismus auf dem Rücken marginalisierter Menschen. Statt das Problem an der Wurzel anzugehen und für eine kräftige Erhöhung des Mindestlohns zu stimmen, möchte die Union bei Geringverdiener*innen lieber die Mentalität etablieren, weiter nach unten zu treten.
Arbeitslosigkeit oder –unfähigkeit kann jede*n treffen. Immer. Selbstverschuldet ist diese Situation nur in den seltensten Fällen. Das ist aber auch nicht relevant, denn unser Sozialstaat trägt die Verantwortung dafür, Menschen in Krisensituationen aufzufangen und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Wenn also die Union am aktuellen Gesetzesentwurf zum Bürgergeld das „zu hohe“ Schonvermögen von 60.000€ pro Person in den ersten zwei Jahren des Bezugs kritisiert, sollten auch Familienunternehmer*innen und Menschen der Mittelschicht aufhorchen. Schließlich macht die Union auch ihre hart ersparten Rücklagen und Besitztümer gerade zur Verhandlungsmasse in einem parteipolitischen Machtkampf. In meinen Augen ist es nun höchste Zeit sich zu fragen, für wen die vermeintlichen Volksparteien CDU/CSU eigentlich Politik machen.
Wir fordern eine klare Haltung der Regierung: Das Bürgergeld ist ein kleiner Schritt hin zur sozialen Transformation. Er ist dringend nötig. Und er reicht bei weitem nicht aus! Um die Resilienz unserer Gesellschaft gegenüber multiplen Krisen zu stärken, braucht es ein Sozialsystem bisher unbekannter Stärke und ein tragfähiges Sicherungsnetz, welches die Menschenwürde auch in der Grundsicherung wahrt. Dies ist eine absolut notwendige Grundvoraussetzung, um überhaupt die dringend notwendige Sozial-Ökologische Transformation zur Mitigation der Klimakrise, der Biodiversitätskrise, globaler Ressourcenkämpfe, weiterer Pandemien (…) einzuleiten. Wirklich armutsfest wäre das Bürgergeld laut dem Paritätischen Gesamtverband erst, wenn eine Erhöhung von mindestens 223€ gegenüber dem angestrebten Regelsatz umgesetzt wäre.
In der Industrienation Deutschland trägt die Politik und insbesondere die Union Verantwortung dafür, dass Millionär*innen und Milliardär*innen ihre Vermögen in der Krise ins Unermessliche steigern, während Menschen und Familien im Hartz-IV-Bezug kaum noch etwas zu Essen auf den Teller bekommen. Heute müssen diese Menschen durch Inflation, gestiegene Gas- und Energiepreise und nun sozialer Kälte der Union mehr als je zuvor um ihre Existenz bangen.
Ich finde es schmerzhaft, in der politischen Debatte und in persönlichen Gesprächen erfahren zu müssen, mit welcher Arroganz über – statt mit – armutsbetroffenen Menschen gesprochen wird.
Klar ist für mich: so lange ehrenamtlich getragene Organisationen wie die Tafeln über Essensausgaben das Überleben meiner Familie sichern müssen, versagt unser Sozialstaat, und damit auch unsere Politik, auf ganzer Linie. Auch Markus Söder kann durch einen heuchlerischen Besuch der Münchner Tafel nicht vertuschen, welche Verantwortung seine Partei dafür trägt.
Die Realität des Aufwachsens im Hartz-Bezug würde ihm, wie vielen Politikern, die Augen öffnen. Dann wäre ein menschenwürdiges und armutsfestes Bürgergeld sicher bereits beschlossen.
http://www.portal-sozialpolitik.de/index.php?page=narrativ_nicht_lohnende_arbeit